Geständnis einer Fatshamerin

7 Dinge, die du tun kannst, um besser mit Bodyshaming umzugehen

Ich wette jetzt mit dir!

Und zwar wette ich, dass du – obwohl du nach herkömmlichen Maßstäben selbst einige Kilos zu viel wiegst – schon mal beim Anblick eines anderen, vielleicht noch dickeren Menschen gedacht hast, „Wie kann die nur in solchen Klamotten rumlaufen?“, „Muss der wirklich Eis essen?“ oder so ähnlich. Dann hast du dich mit Blick auf deine Schenkel oder deine Eiswaffel ertappt gefühlt – oder auch nicht.

Woher ich das weiß? Weil wir alle Menschen sind. (In der westlichen Hemisphäre aufgewachsene Menschen – aber dazu später.) Und weil ich selbst so gedacht habe und mich manchmal noch dabei erwischt habe, wie solche Gedanken aufblitzten.

(M)ein Beispiel:

Schon im Sommer 2019 hab ich angefangen, einen Artikel über Fatshaming zu schreiben, damals noch für meinen im Sabbatical geplanten Freizeit-Blog. Die Überschrift lautete damals „Fatshaming ist Schei**“.

Ich hab diesen Artikel nie beendet. Und das nicht, weil der Sabbatical-Blog nie das Licht der Welt erblickte, sondern weil ich mich geschämt hab. Weil ich mich nicht verstanden hab und auch nicht wusste, was ich dazu anderen zu sagen habe, was meine Botschaft ist. Ich wusste damals nur, dass es Mist ist, was ich da gedacht habe.

Was war denn nun passiert?

Ich saß im Frühsommer 2019 im ICE nach Berlin und neben mir eine Dame mit einem vermeintlich deutlich dreistelligen Gewicht. Wir rufen uns an der Stelle kurz ins Gedächtnis, dass auch ich etliche Kilos über der Normfigur habe… Mein erster Impuls war: „Klar – sie muss ja erste Klasse buchen, in der zweiten passt sie gar nicht in den Sitz“.

Mein zweiter Gedanke war Scham.

Schämen fürs Fatshaming. „Warum mache ich da eigentlich mit?!“, lautete mein Selbstvorwurf. Natürlich nicht mit Äußerungen, aber den Gedanken hatte ich schon. Ich machte mir Gedanken zu meinem Selbstwert – war der denn so schwach, dass ich jemanden brauchte, der vermeintlich schwächer ist (in dem Fall eben schwerer) als ich, um mich besser zu fühlen?

Inzwischen habe ich gelernt, verstanden und mir verziehen.

Fatshaming gehört aktuell (leider noch) zur Identität der Menschen in der westlichen Gesellschaft: ein unerwünschtes Erbe – denn das Schlankheitsideal ist keine Erfindung der modernen Medien. So sind wir quasi alle als Kinder alle in einen großen Kessel Fatshaming-Zaubertrank gefallen und haben gelernt, dass gemäßigtes Essen statt Reinhauen und eine schlanke Statur als scheinbares Zeichen fürs gemäßigte Essen alse Ideal gelten. Und dass umgedreht Dicke triebgesteuerte, disziplinlose Menschen sind, die man verurteilen kann und – jawohl! – sollte.

Diese Denke stammt aus der Antike, wo nur die Kontrolle unserer Triebe überhaupt unsere Zivilisation hervorgebracht hat. Also nix mehr mit faul rumliegen, bei akutem Hunger dem nächsten Mammut nachjagen, dann alles auf einmal reinhauen und wieder relaxen. Die Menschen disziplinierten sich stattdessen und verabredeten sich zu Dingen wie Ackerbau, Vorratshaltung und Städtebau. Dann hatten sie ausreichend Nahrung, ein Dach überm Kopf und konnten sich ihren Interessen, Neigungen und vor allem geistigen Fähigkeiten zuwenden.

[mehr Hintergründe zur Entstehung des Schlankheitsideals in meinem Blogpost: Warum wir alle schlank sein wollen]

Fatshaming war schon immer da.

Auch wenn dank wunderbarer Kampagnen wie #RespectMySize jetzt mehr darüber gesprochen wird. #RespectMySize folgte dem Skandal um das Cuxhavener Hotel, dessen Betreiberin keine Gäste jenseits der 130 Kilo-Marke wollte. Was als Hausherrin ihr Recht ist. Aber was einen mehr als abwertenden Beigeschmack bekommt, wenn die Hotelierin den Ausschluss von Hochgewichtigen so erläutert: “Also ich finde es persönlich diskriminierend, dass ich so einen Anblick ertragen muss – ehrlich gesagt.“ (Quelle: Buten un binnen)

Warum wohl fühlen sich so viele Menschen persönlich angegriffen, wenn sie Dicke sehen?

Ich verweise an der Stelle wieder auf das alte Schlankheitsideal unserer westlichen Welt. Unser gesamtes Leben wurden wir damit beschallt.

Angefangen bei der Barbie mit völlig unrealistischen Maßen bis hin zu TV-Model-Shows, wo sehr schlanken Mädchen Hosen in den Größen 32 und 34 bereitgestellt werden (in die sie teilweise gar nicht passen können!), nur um dann zu schauen, wie sie daran verzweifeln und sich (eine Konfektion 34 tragend) als „fett“ und „dicker“ bezeichnen. (Quelle:Youtube)

Und da ist ja noch unsere tägliche Portion Werbung, natürlich mit schlanken Menschen. Wenn dicke Personen in der Werbung erscheinen, gilt das immer noch als Skandal und gehört keineswegs zur Normalität. Eine dicke oder sehr dicke Person dagegen bricht unsere Sehgewohnheiten und gehört daher zu den Hinguckern, die so eine Werbung benötigt, um aus der Masse hervorzustechen. Persönlich finde ich das im richtigen Kontext gut (mehr zum Thema Sehgewohnheiten weiter unten), allerdings sind wir erst am Ziel, wenn dicke Menschen alltäglich in Werbespots und auf Plakaten erscheinen und keiner mehr einen Skandal daraus macht. Wie beispielsweise 2019, als Gilette Anna O’Brian für einen Werbespot verpflichtete und ein Aufschrei durch Social Media ging.

Was das nun mit all den vermeintlich wohlmeinenden oder wahlweise offen bösartigen Kommentatoren zu tun hat, die dicken Menschen tagein tagaus ihre Bemerkungen hinterherschicken? Nun, die Fatshamer haben es bisher nicht anders gelernt. Sie wurden im Sinne des Schlankheitsideals erzogen. Sie glauben daran, dass Disziplin absolut notwendig ist und die Dicken, vermeintlich Disziplinlosen, diese Kultur missachten. Wenn dann noch ein angeknackster Selbstwert und fehlende persönliche Bewältigungsstrategien – angesichts der fortschreitenden globalen und gesellschaftlichen Komplexität – dazukommen, dann wird es richtig eng für uns Höhergewichtige: dann bekommen wir die volle Ladung Fatshaming ab.

Was es bei allem Verständnis nicht besser macht!

Ein Punkt fehlt dir in der Fatshaming-Diskussion noch? Das Gesundheits-Argument: „Wo doch jeder weiß, dass Übergewicht schädlich für die Gesundheit ist. Alles Mögliche kriegt man davon. Diabetes, Bluthochdruck, Herzinfarkt, Gallensteine, Metabolisches Syndrom. Und weiß der Teufel was noch“, hört man oft.

Ich zweifle stark am ehrlichen Interesse dieser Kritiker an unserer Gesundheit oder dem deutschen Gesundheitssystem, aber ich stimme ihnen an dieser Stelle stimme zu: Ja, Dicksein beinhaltet generell eine ernsthafte Bedrohung für die Gesundheit. Jeder Dicke, unabhängig von seiner körperlichen Beschaffenheit, ist dieser Bedrohung ausgesetzt – dem Fatshaming!

Fatshaming ist eine ernsthafte Bedrohung für die Gesundheit – wissenschaftlich belegt

Während Krankheiten mit Übergewicht einhergehen (Korrelation), ist sich die Fachwelt über die genauen Ursachen (Kausalität) in so einigen Fällen uneins. Und so wird in der breiten Masse munter drauf losgemixt und Korrelation und Kausalität von Krankheiten und Übergewicht in einen Topf geworfen, egal ob zuerst das Huhn oder das Ei da war. Neueste Untersuchungen zeigen nun, dass Fatshaming tatsächlich konkrete gesundheitliche Folgen hat.

Dazu müssen wir uns einmal anschauen, was es tut: Fatshaming würdigt jemanden aufgrund seines Äußeren herab. Aufgrund des Erscheinungsbildes einer Person verallgemeinert Fatshaming deren tatsächliche Eigenschaften – oft auf ziemlich einseitige und negative Zuschreibungen wie Faulheit, Maßlosigkeit, Ziellosigkeit und schlechte Hygiene. Die Person wird aufgrund ihres Übergewichts stigmatisiert.

Wird nun diese Stigmatisierung von den Dicken selbst für wahr gehalten und verinnerlicht, was aufgrund der hohen Quantität und bösen Qualität der Angriffe nicht verwunderlich ist, zeigen diese Personen erschreckende Effekte. Nicht nur, dass sie weniger körperliche Aktivitäten aufweisen (wer will sich schon bewegen, wenn er ständig begafft oder beleidigt wird?!) oder weniger medizinische Hilfe in Anspruch nehmen (selbst wenn die Gewichtszunahme durch ein medizinisches Problem verursacht wird). Darüber hinaus können sie auch ungünstiges Essverhalten entwickeln, wie zum Beispiel Binge Eating. 1

Zusätzlich lassen sich auch körperliche Auswirkungen messen.

Dicke, die solche Vorurteile über Dicke verinnerlichen, haben ein höheres Risiko am metabolischen Syndrom zu erkranken und höhere Blutfettwerte (Triglyceride) zu entwickeln als die dicken Personen, denen diese Vorurteile egal sind. 2

Und wer nun meint, dass seine Kritik ja ausschließlich gute Absichten hätte, da sie zum Abnehmen anregen soll, dem sei gesagt: Das funktioniert nicht, denn Fatshaming mag den einen oder die andere anspornen, Gewicht zu verlieren, um der Stigmatisierung zu entkommen – gleichzeitig untergräbt es die Fähigkeit desjenigen, dies auch wirklich zu schaffen. 3

Es sollte also inzwischen klar sein, dass das Herabwerten von anderen aufgrund ihres Gewichts ein absolutes No-Go ist. Und im Umkehrschluss – wenn du solchen Kommentaren ausgesetzt bist, dass du dies nicht ertragen brauchst. Dass du ein Recht hast, von diesen Kommentaren unbelastet zu bleiben.

Mehr zu wiegen als der der durchschnittliche Mensch, das kann man nicht ungesehen machen, man fällt immer auf. Und egal, in welchen Formen einem Fatshaming begegnet, es bohrt mehr oder weniger vordergründig am Selbstbewusstsein.

Was kannst du konkret gegen Fatshaming tun?

#1 – Erkenne Fatshaming, wenn es dir begegnet.

Fatshaming kommt in vielen Formen daher. Es muss nicht immer boshaft und widerlich sein. Es kann auch vermeintlich nett verpackt sein.

Zum Beispiel in der süßlichen Frage der Tante oder Freundin, ob du denn dieses Stück Kuchen wirklich noch essen möchtest. Im väterlichen Rat des Hausarztes nach der jährlichen Grippe-Impfung, jetzt doch mal endlich eine Diät zu machen, ohne dass ein konkreter Grund vorliegt. In der vermeintlich aufrüttelnden Frage der Ernährungs-Coachin, dass man „so“ doch nicht enden wolle, während sie ein Foto einer stark hochgewichtigen Frau vor einem Berg von Süßigkeiten zeigt.  Mit der Zeit wirst du immer feinere Antennen entwickeln, aus welchen Richtungen gegen dein Selbstbewusstsein geschossen wird.

#2 – Hab Verständnis für dich und verzeihe dir Fatshame-Gedanken – egal wieviel du selbst wiegst.

Wir sind alle auf dieses Schlankheits-Ding gepolt sind, denn abgesehen von Episoden, wo Übergewicht nach Kriegs- oder anderen Hungerszeiten als Zeichen von Genesung und Wohlstand galt, ist Schlank & Fit „das Ding“ in unserer Gesellschaft. Gerade jetzt – in unserer westlichen Überfluss-Gesellschaft, wo Nahrung jederzeit und in jeder nur erdenklichen Form 24/7 verfügbar ist, ist Dicksein nach dem kulturellen Verständnis so gar nicht mehr erstrebenswert.

Es ist also ganz normal, wenn du auch Fatshame-Gedanken hast – du bist schließlich inmitten des Fatshame-Kults groß geworden. Wichtig ist dabei nur, dass du dich entscheidest, da nicht mehr mitzumachen. Dabei kann dir Body Positivity helfen, den ganzen Diät-Bullsh** nicht mehr zu glauben.

#3 – Leg dir eine Strategie zu, wie du mit Angriffen umgehen willst.

Es wird Situationen geben, da trifft es dich nicht. Vielleicht weil du schon damit rechnest oder dir der Absender völlig am Allerwertesten vorbeigeht.

Dann wird es Situationen geben, die dich unerwartet überfallen oder die dir schon zu schaffen machen, wenn du nur daran denkst. Das ist ok. Versuche dich (fürs erste oder nächste Mal) vorzubereiten: mit welcher Einstellung willst du in die Situation gehen, willst du die „kalte Schulter“ zeigen oder Paroli bieten. Leg dir im Zweifelsfall eins, zwei flotte Sprüche oder Entgegnungen zurecht und entscheide je nach Situation, was und wie du antworten willst. Hilfreich auch: hol dir Unterstützung – zu zweit geht vieles leichter.

#4 – Erzähl anderen von deinen Gedanken dazu.

Jeder Mensch ist unabhängig von Aussehen und Gewicht wertvoll! Dick, dünn, groß, klein, gesund, krank, Hautfarbe und Herkunft sowieso, egal – alle wertvoll! Vielleicht schämen sich auch deine Freunde für ihre Fatshame-Gedanken und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Erst wenn wir etwas bewusst wahrnehmen und benennen, können wir es verstehen und später auch ändern.

Und glaub mir, alle werden sich besser fühlen, wenn im Umfeld nicht mehr über Äußerlichkeiten gelästert wird. Denn wirklich jeder vergleicht sich in so einem Zusammenhang und wird garantiert vermeintliche Unzulänglichkeiten an sich finden. Für die er oder sie sich dann selbst abwertet…

#5 – Ändere deine Sehgewohnheiten.

Folge Body-Positivity-Aktivistinnen oder hochgewichtigen Models.

Betrachte Fotos in Zeitschriften, insbesondere in den Anzeigen, mit dem nötigen Abstand (Stichwort: Photoshop) oder kauf dir die Magazine einfach nicht mehr, bei denen du dich nach dem Durchblättern schlechter fühlst. Schalt keine Model-, Bachelor- oder sonstige „Rank&Schlank“-TV-Sendungen mehr an, sondern schau lieber „Nobody is perfect“ mit Paula Lambert (endlich mal normale Menschen, yes!). Gibt’s noch zu sehen bei Joyn [unbezahlte Werbung ohne Auftrag].

#6 – Finde neue Komplimente.

Du kommst morgens ins Büro und deine Lieblingskollegin strahlt dich an. „Du siehst heute blendend aus!“, entfährt es dir – von ganzem Herzen. Und „Was für ein hübsches Kleid!“ hinterher. Natürlich ist es toll, solche Komplimente zu bekommen und zu verteilen, aber im Endeffekt bewegen wir uns damit immer im Äußeren. Finde einen Weg, Komplimente zu machen, ohne über das Äußere zu sprechen – die Kollegin lächelt so glücklich, sie steckt dich mit ihrer guten Laune an oder du bist einfach froh, jeden Morgen einen so tollen Menschen zu treffen. Du übst dadurch, den Wert eines Menschen nicht mehr nach dem Äußeren zu bemessen – nicht zuletzt auch deinen eigenen.

#7 – Stehe für andere ein.

Es kann sein, dass dir persönlich gar nicht so viele Angriffe entgegengebracht werden. Und wenn doch, dann traust du dich eventuell nicht, die zu parieren. (Vielleicht weil du tief im Inneren denkst, dass sie ja Recht haben – dann gehe bitte nochmal zu Punkt 2 🧡)

Auf jeden Fall ist es ein guter Start, erstmal dort, wo du dich sicher fühlst, anzufangen. Zum Beispiel wenn die Freunde über das Mädchen mit dem Eis lästern oder eine Schauspielerin für ihre angeblich dicken Beine kritisieren. Für andere einzustehen, fühlt sich gut und nach und nach lernst du auch, für dich einzustehen.

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Quellen der wissenschaftlichen Arbeiten:

1 via Wikipedia:

Schafer, Markus H.; Ferraro, Kenneth F. (2011-03-01). “The Stigma of Obesity Does Perceived Weight Discrimination Affect Identity and Physical Health?”. Social Psychology Quarterly. 74 (1): 76–97.

Bombak, Andrea E. (2015-01-01). “Obese persons’ physical activity experiences and motivations across weight changes: a qualitative exploratory study”. BMC Public Health. 15: 1129.

Puhl, Rebecca M.; King, Kelly M. (2013). “Weight discrimination and bullying”. Best Practice & Research Clinical Endocrinology & Metabolism. 27 (2): 117–127.

Purcell, Carey (2017-10-26). “‘No Fatties’: When Health Care Hurts”. Longreads. Retrieved 2018-05-06.

2: Pearl, Rebecca L.; Wadden, Thomas A.; Hopkins, Christina M. (2017): Association Between Weight Bias Internalization and Metabolic Syndrome Among Treatment-Seeking Individuals with Obesity

3 via Wikipedia: Hunger, Jeffrey M.; Major, Brenda; Blodorn, Alison; Miller, Carol T. (2015-06-01). “Weighed Down by Stigma: How Weight-Based Social Identity Threat Contributes to Weight Gain and Poor Health”. Social and Personality Psychology Compass. 9 (6): 255–268

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