Was uns nicht bewusst ist – was wir nicht wahrnehmen (können), das können wir weder beeinflussen noch verändern. Umso wichtiger ist es, unbewusste Zusammenhänge und verschüttete Gedanken ans Tageslicht zu holen und zu bewerten. Passt das eigentlich noch zu meinem aktuellen Leben? Will ich mich so sehen? Das gilt für unsere Beziehungen, unser Berufsleben genauso wie für unseren Körper.
Selbstreflexion ist eines der stärksten Werkzeuge, die wir an der Hand haben, wenn es um Persönlichkeitsentwicklung geht. Der Vorteil ist, es ist einfach und ohne Barrieren umzusetzen, weil du es allein tun kannst. Etwas Zeit/Ruhe, Papier und Stift genügen, um loszulegen. Der Nachteil? Du kannst es allein umsetzen Manchmal betuppst du dich dabei nämlich selbst, entweder weil du dich mit bestimmten Themen (Gefühlen… we’ll get to it) nicht beschäftigen willst oder kannst. Oder weil da ein blinder Fleck ist, etwas, was du selbst (noch) nicht sehen kannst.
Also frei nach Bertolt Brecht: Wer nicht anfängt, hat schon verloren. Leg los und du erhältst die Chance, den Blick auf dich und deinen Körper zu verändern.
Wichtig: Diese Anleitungen zum Selbstcoaching richten sich an gesunde Menschen und ersetzen keinen ärztlichen Rat. Bitte beachte, dass bei bestimmten psychischen Erkrankungen bestimmte Selbstcoaching-Methoden wie Achtsamkeit nicht hilfreich oder sogar schädlich sein können. Beschäftige dich nur mit diesen Fragen, wenn du dir das zutraust. (Tipp: wenn du an dieser Stelle Zweifel hast und länger darüber nachdenken musst, dann ist es wahrscheinlich zu früh für dich, dir diese Fragen zu stellen.)
Wenn du glaubst, einen medizinischen Rat zu benötigen, z.B. zum Thema Essstörung, wende dich bitte an deine*n (Haus-)Ärzt*in oder andere qualifizierte Beratungsstellen. Optimalerweise an solche, die gewichts-inklusiv behandeln und beraten. Diese findest du zum Beispiel unter www.gynformation.de [Werbung ohne Auftrag aus Überzeugung, Datenbank für FA außer Gyn im Aufbau]. Oder du informierst dich mit Hilfe der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.
Bitte hole dir bei Bedarf psychotherapeutische Hilfe, das ist völlig ok. Der verlinkte Artikel hier zeigt dir, wie das gehen kann: https://einguterplan.de/erstehilfe [Werbung ebenfalls ohne Auftrag].
In akuten Krisensituationen ist auch die Telefonseelsorge rund um die Uhr und anonym für dich da: Deutschland 0800 111 0 111 bzw. 0800 111 0 222 und 116123 | Österreich 142 | Schweiz 143
Ok, legen wir los!
Und nein, wir starten nicht mit der Frage: Was stört dich an deinem Körper, was magst du? Diese Fragen kannst du dir natürlich stellen, wenn du Lust darauf hast, besonders den zweiten Teil der Frage. Gleichzeitig kann so eine Fragestellung in eine Sackgasse führen. Dein Körper ist nicht beliebig veränderbar, wenn du unzufrieden bist. Das hast du in den letzten Jahren, mit (und besonders nach) den letzten Diäten bereits schmerzvoll erfahren.
Also wenden wir uns ab von der potenziellen Sackgasse und hin zu einer aussichtsreicheren Strecke.
(1) Was denkst du über deinen Körper?
Ja, das ist eine heftige Frage. Beantworte sie, wenn du dich bereit dafür fühlst. Ganz wichtig ist, bewerte nicht, was du da denkst. Es sind einfach Gedanken. Ganz normale Gedanken, die man nun mal hat, wenn man in unserer heutigen Welt lebt. Wir ziehen immer die Schublade „gut“ oder „schlecht“ auf und packen alles hinein, was uns vor die Augen und unter die Finger kommt. Und dann fühlen wir uns eben auch gut oder schlecht.
Deswegen möchte ich heute deine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung lenken. Schau doch im nächsten Schritt einmal hinter diese Gedanken über deinen Körper:
Woher stammen die Gedanken? Sind es Aussagen anderer über dich? Sind es Aussagen anderer über andere? Sind es Aussagen für dich besonders wichtiger Personen (zu dir oder über andere)?
Denn alle diese Gedanken, die meist mit Bewertungen, also der Einteilung in gut oder schlecht, einhergehen, kommen nicht von allein. Sie sind Erfahrungen, die du gemacht hast, Dinge, die du (unbewusst) miterlebt hast, Tatsachen, die du bei anderen beobachten kannst. Einige der Gedanken mögen dir bewusst sein (z.B. „Dicksein ist schlecht.“), andere vielleicht unbewusst (z.B. „Dicke müssen einfach faul und träge sein, sonst wären sie ja nicht so dick.“).
Aufschreiben hilft dir hier, Unbewusstes bewusst zu machen. Und sinnvoll ist es zu schauen, wo diese Glaubenssätze herkommen.
Vielleicht wunderst du dich ja, warum du keine Reste auf deinem Teller lassen kannst und trotz Völlegefühl aufisst, denn deine Eltern haben dich weder ermutigt noch gezwungen, deinen Teller leerzuessen als Kind. Und dann beobachtest du jemanden in deiner Familie, wie sie fast wütend werden, wenn ein winziges Stückchen Kuchen beim Sonntagskaffee überbleibt und es beim Abräumen in der Küche schnell und fast ohne Kauen herunterschlingen…
Dass man Essen nicht wegwirft und damit verantwortungsvoll umgeht, ist ein absolut sinnvoller Vorsatz, denn wertvolle Ressourcen sind für dieses Essen verwendet worden. Wenn aber gleichzeitig eine solche ‚Ladung‘ auf einem 3x3cm großen Stück Pflaumenstreusel liegt, dass da einsam auf dem Kuchentablett liegen geblieben ist, dann ist das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Glaubenssatz, der dein Verhältnis zu Essen stark geprägt hat. Denn er wurde dir vorgelebt. Wie sagt man so schön: Es ist egal, was du deinen Kindern sagst, wie sie etwas tun sollen. Sie werden immer darauf schauen, wie du es tust…
Das ist explizit kein Vorwurf an die Eltern- oder (Ur)Großeltern-Generation. Nein, es ist deren ganz normale und menschliche Reaktion – in dem Fall auf die unglaubliche Nahrungsknappheit, die sie bzw. ihre Eltern und Großeltern während des 2. Weltkrieges miterleben mussten.
Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Und deswegen ist es so wichtig, dass du dich reflektierst. Denn die Weitergabe von Glaubenssätzen (die übrigens nicht nur auf eigene Kinder „abfärben“) kannst nur du bei dir selbst unterbrechen.
Und deswegen gehen wir ein Stück weiter:
(2) Wie fühlst du dich (in deinem Körper) mit all diesen Gedanken?
Was lösen deine Gedanken bei dir aus? Welche Emotionen kommen hoch? Versuche, sie da sein zu lassen und sie nicht wegzuwischen, denn ihre Botschaften sind wichtig. Unsere Gefühle zeigen uns, was wir brauchen.
Das sagen uns die Basis-Emotionen:
Angst >> entspringt dem Wunsch nach Sicherheit; ist eine sehr mächtige, wenn nicht die mächtigste Emotion >> frage dich, wovon will die Angst dich abhalten?
Freude >> die Gegenspielerin der Angst; gibt Bestätigung und bringt Lustgewinn >> weißt du, was dir Freude bereitet? Kannst du Freude auch in kleinen Dingen sehen?
Traurigkeit >> die Endlichkeit der Dinge wird dir bewusst; Verlust & Abschied >> welche Veränderung betrauerst du? (Und: hast du die Trauer zugelassen?)
Wut >> ein Warnzeichen >> frage dich, welche (deiner) Grenze(n) wurde überschritten?
Scham >> hah, die most tricky Emotion, denn zu viel Schämen verhindert, dass du so leben kannst, wie es für dich gut ist! Eigentlich hilft die Scham, die im Grunde eine Selbstreflexion und -bewertung ist, dabei, dass Menschen in Gruppen gut zusammenleben können, denn Schämen verhindert Grenzüberschreitungen.
Nur scheint dieses Konzept aus dem Ruder gelaufen: Scham wurde in der Vergangenheit und wird auch noch heute wissentlich genutzt, um Menschen zu unterdrücken. Es geht nicht mehr darum, seine Mitmenschen am Esstisch nicht vollzupupsen, sondern darum, Menschen einzureden, dass sie oder ihr Verhalten nicht gut genug sind: Frauen sind zu dick oder zu behaart, wenn sie Schönheitsideale sausen lassen. Männer zu verweich(b)licht, wenn sie halbtags arbeiten, um auf die Kinder aufzupassen. Jungs, die lieber mit Puppen als mit Baggern spielen, wird eine Karriere als Friseur angedroht (oh, so viele Vorurteile auf einmal…). Mädchen, die laut sind, sich balgen und kurze Haare tragen, bekommen später angeblich keinen Mann (ob sie den dann brauchen/wollen, steht nochmal auf einem ganz anderen Blatt Papier). Die Liste ließe sich endlos fortsetzen… Und für all das sollen sie sich schämen = ihr Verhalten korrigieren und mal schön wieder zurück in die normative Reihe treten.
Insofern macht es sehr viel Sinn, auch das eigene Gefühl der Scham zu hinterfragen und zu schauen, ob man sich schämt, weil man eigenen Werten nicht gefolgt ist oder eine Art gesellschaftlich anerkannte Scham übernommen hat.
(3) Wie willst du dich – stattdessen – fühlen?
Ganz wichtiger Teil der Fragen! Du hast mit deinen Gedanken eine gewisse Macht über deine Gefühle (wenn du psychisch gesund bist). Diese Gefühle sind nämlich Ergebnis deiner Bewertung einer Situation. Glaubst du nicht? Hier ein Beispiel:
Du stehst vor einer roten Ampel. Du bist spät dran für deinen Termin, weil du erst noch deinen Fahrradreifen aufpumpen musstest. Der war völlig platt, das Mistdingens…
Möglichkeit 1: Du schaust ständig auf die Uhr. Vor deinem inneren Auge siehst du deine*n Gesprächspartner*in ausrasten, sie*er hasst Unpünktlichkeit. Zu allem Unglück kannst du die Person nicht am Handy erreichen, scheinbar ein Funkloch oder ausgeschaltet.
Ergebnis: du bist völlig gestresst und hast Riesenangst, dass der Termin platzt – du siehst im wahrsten Sinne rot und über die nächste Ampel fährst du vielleicht auch bei Rot…
Möglichkeit 2: Du weißt, du wirst 10 min zu spät sein. Du fühlst dich mies, weil du weißt, dass das Gespräch noch schwieriger werden wird als sowieso schon. Doch die rote Ampel erinnert dich daran, dass du nicht immer alles in der Hand hast. Du nutzt die Zwangspause, um tief zu atmen und einen Schluck aus deiner Wasserflasche zu nehmen. Dabei entdeckst du auf dem Laternenmast neben der Ampel eine Amsel, die dem Hund, der darunter wartet, auf den Kopf kackt und musst herzhaft lachen. Du bist heute nicht der einzige Pechvogel.. äh.. -hund.
Ergebnis: du hattest einen Moment der tiefen Entspannung und Ablenkung.
In welchem Szenario bzw. mit welchem Grundgefühl möchtest du lieber in den anschließenden Termin gehen? Es liegt auf der Hand. Gleiche Situation (rote Ampel, zu spät zum Termin) – verschiedene Gefühlswelten.
Deswegen ist es hilfreich, sich mit seinen Gefühlen zu beschäftigen und den Bewertungen, die dahinter liegen. Denn umgedreht funktioniert es genauso – du kannst dich fragen, wie du dich fühlen willst und im Anschluss schauen, welche Gedanken dafür hilfreich sind.
Du kommst mit den Fragen nicht richtig in die Gänge? Dann versuche es mit folgender Frage, die auf unserem Weg eine kleine Kurve macht:
(4) Du kannst deinen Traum-Körper bekommen. Was würde sich für dich ändern?
Sind es die positiven oder ausbleibenden negativen Reaktionen anderer auf dich? Ist es dein Selbstbewusstsein, mit dem du endlich nach draußen gehst? Sind es alltägliche Dinge, wie ein problemloser Klamottenkauf in der Shopping Mall, wenn dein Gepäck im Urlaub abhandengekommen ist? Oder eine freundliche und sachgerechte Behandlung durch deine*n Ärzt*in?
Es wäre gelogen, dir zu sagen, dass du all die Dinge, die du als dicker oder fetter Mensch nicht bekommst oder ertragen musst, mit den „richtigen“ Gedanken auf jeden Fall bekommst oder sie fern von dir bleiben. Diskriminierung ist real. Es ist absolut hilfreich, dir dessen bewusst zu werden. Und dir der Dinge bewusst zu werden, die du selbst verinnerlicht hast – dich selbst damit niedermachst und damit quasi die Arbeit der Unterdrückenden selbst erledigst. (Dieser politische Teil von Gewichtsdiskriminierung verdient viel mehr Beachtung, die ich ihm hier nicht gerade geben kann. Wenn du magst, lies dich ein. Zum Beispiel mit dem Buch „Body Politics“ von Melodie Michelberger. Werbung ohne Auftrag)
Gleichzeitig kannst du durch Selbstakzeptanz und eine andere Perspektive auf deinen Körper so einiges für dich verbessern, ohne auch nur ein bisschen an deiner Optik zu verändern.
Schaue dir an, welche Veränderungen in deinem Fühlen du auch ohne Veränderung deiner Optik herbeiführen kannst.
Du hast Zweifel oder bist unsicher, was dir die Fragen oben bringen, dann stelle dir diese:
(5) Wie geht es dir, wenn du in 5 Jahren weiterhin 100% gleich über deinen Körper denkst und in derselben Situation bist?
Welche Vorteile und welche Nachteile siehst du dabei, wenn du im gleichen Zustand verharrst?
Und dann sind wir, ähnlich wie bei Frage 2, bei der Fragestellung, ob du zukünftig so leben möchtest, ob das deinen Zielen, Werten und Vorstellungen von deinem Leben entspricht.
Tipp: Wenn du schon versucht hast, etwas in deinem Leben zu verändern, aber es nicht ‚durchziehen‘ oder langfristig ausüben konntest, dann kann dir auch die Frage helfen, welche Vorteile dir diese jetzige – augenscheinlich und bewusst wahrgenommen negative – Situation (die du ändern willst) verschafft. Denn diese Vorteile wird dein Hirn nicht einfach loslassen wollen, sondern unbewusst weiterverfolgen – besonders, wenn es schwierig wird. An dieser Stelle lohnt sich oft die Begleitung durch eine andere (neutrale) Person, denn diese Vorteile sind oft „blinde Flecken“ für eine*n selbst.
Die folgende Frage mag erstmal seltsam erscheinen, denn wahrscheinlich hast du in der Vergangenheit „Diät halten“ nie als eines deiner Hobbies aufgezählt. Dennoch ist sie (bzw. deine Antwort darauf) ein wichtiger Wegweiser für einen dauerhaften Ausstieg aus der Diätkultur:
(6) Angenommen, Diäten und die Verfolgung eines Körper-Ideals sind nicht mehr Bestandteil deines Lebens: was tust du (stattdessen)?
Was treibt dich an? Was ist dir wichtig? Was sind deine Interessen, Hobbies? Und: Was sind deine Werte? Wie sieht dein idealer Tag aus?
Dein Leben wurde bisher zu einem Gutteil von Diätgedanken und ebensolchen Aktivitäten bestimmt, sie sind eine Gewohnheit von dir geworden. Und Gewohnheit bedeutet Sicherheit. Das heißt dann auch, dass dein Hirn diese Gewohnheiten immer wieder aufleben lassen wird, wenn du unsicher bist, wenn du Leerlauf hast, wenn du aufgewühlt bist. Das ist der Überlebensmodus.
Bitte hilf deinem Hirn ein wenig, gib ihm etwas, was es (=dich) so motiviert, die Lücke zu füllen, dass Diäten keine Chance mehr haben.
Sechs Fragen, die es in sich haben können. Ich bin mir gerade nicht sicher, ob ich dir viel Spaß beim Beantworten der Fragen wünschen soll. Auf jeden Fall kann es herausfordernd sein, aber auch sehr augenöffnend und später erfüllend.
Ich freue mich immer über Feedback, wie dir diese Fragen geholfen haben (oder ob nicht). Hinterlasse gern einen Kommentar oder schreibe mir eine Mail.
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